- Kolonialismus: Koloniale Abhängigkeiten zwischen den Kriegen
- Kolonialismus: Koloniale Abhängigkeiten zwischen den KriegenDer Erste Weltkrieg beschleunigte Wandlungsprozesse in fast allen politischen und gesellschaftlichen Bereichen überall auf der Welt. Dies gilt auch für die Kolonien und die Kolonialpolitik. Die fast selbstverständliche Verfügungsgewalt der imperialistischen Mächte Europas über mehr als die Hälfte der Erdoberfläche und ein gutes Drittel der Weltbevölkerung war aus verschiedenen Gründen an einen kritischen Punkt gekommen, auch wenn auf den ersten Blick noch von einer Kontinuität kolonialer und halbkolonialer, formeller und informeller Herrschaft über Afrika und Asien gesprochen werden kann. Das Zeitalter der Entkolonisierung begann recht eigentlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass schon nach 1918 manches Abhängigkeitsverhältnis dadurch eine Veränderung erfuhr, dass einzelne Kolonien eine Gegenleistung für ihren Beitrag im Krieg erwarteten, den zu gewinnen sie geholfen hatten. Hinzu kam die antiimperialistische Stoßrichtung sowohl liberaler als auch sozialistisch-kommunistischer Prägung. In den USA, deren Kriegseintritt 1917 kriegsentscheidend gewesen war, verstand Präsident Woodrow Wilson das Selbstbestimmungsrecht ausdrücklich in einem globalen Sinn. Noch schärfer formuliert war die antiimperialistische Programmatik, wie sie die russische Oktoberrevolution 1917 in die Welt trug. Allenthalben begannen sich nationalstaatliche Ideen und Emanzipationsbewegungen in den Kolonialreichen bemerkbar zu machen.Wirklich einschneidende Veränderungen ergaben sich 1919 nur für die Reiche, die den Krieg verloren hatten. Deutschland büßte seine überseeischen Besitzungen in Afrika, Fernost und der Südsee ein; das Osmanische Reich mit seinem ausgedehnten Besitz im Nahen Osten reduzierte sich auf die Türkei. Dies führte aber nicht zur Selbstständigkeit der betroffenen Gebiete, sondern zu einer neuen Konstruktion von Herrschaft, zur Einführung des Mandatssystems. Blieb einerseits den bisher unter osmanischer und deutscher Herrschaft stehenden Gebieten die eigene selbstständige Staatlichkeit versagt, so wurden sie andererseits nicht direkt annektiert. Vielmehr fielen sie als Mandatsgebiete an Großbritannien und Frankreich, aber auch an Japan, Südafrika, Australien und Neuseeland, die ihr Mandat von dem 1919 geschaffenen Völkerbund erhielten. Artikel 22 der Völkerbundsatzung begründete dies damit, dass die betroffenen Völker »noch nicht imstande sind, sich unter den besonders schwierigen Bedingungen der heutigen Welt selbst zu leiten«. Darum verfügte der Völkerbund die »Übertragung der Vormundschaft über diese Völker an die fortgeschrittenen Nationen«, wie die erprobten Kolonialmächte genannt wurden. Sie sollten »die Vormundschaft als Mandatare des Völkerbunds und in seinem Namen führen« und jährlich über die ihrer »Fürsorge anvertrauten Gebiete« berichten.Jede andere Entscheidung der Großmächte, die in Paris 1919 zur Friedenskonferenz zusammenkamen, hätte unabsehbare Auswirkungen auf den Zusammenhalt ihrer bestehenden Kolonialreiche gehabt. Immerhin aber konnten sich die in kolonialer Abhängigkeit gehaltenen Völker daran orientieren, dass das Mandatssystem einst in die Selbstregierung münden sollte. Auch wurden die Mandatsgebiete verschiedenen »Entwicklungsstufen« zugeordnet. Zu den A-Mandaten, die als am weitesten entwickelt eingestuft wurden, zählten die »ehemals zum Türkischen Reich« gehörenden Gebiete in der arabischen Welt. Ihnen war von Großbritannien als Gegenleistung für ihre Beteiligung am Krieg gegen das Osmanische Reich schon 1916 die Unabhängigkeit versprochen worden. In Konflikt damit hatte London 1917 auch den zionistisch gesinnten Juden eine »Heimstatt« in Palästina in Aussicht gestellt. Nach dem Krieg teilten sich dann Großbritannien und Frankreich nach anfänglichem militärischem Widerstand in Syrien und im Irak die Herrschaft. Britisches Mandat wurden Palästina, Transjordanien und der Irak. Frankreich übernahm Syrien. In der Folgezeit bewies der arabische Nationalismus allerdings immer wieder seine Lebenskraft. Der Irak wurde 1930 unabhängig und mit seinem Beitritt zum Völkerbund 1932 erlosch das britische Mandat. In Palästina, wo 1930 inzwischen 150000 Juden und eine Million Araber lebten, kam es nicht zu einer beide Seiten zufrieden stellenden Lösung, sodass Großbritannien Ende der Dreißigerjahre eine Begrenzung der jüdischen Einwanderung und ein arabisches Palästina (mit einer jüdischen Minderheit) ins Auge fasste. Außerhalb des Mandatssystems erlangten in diesem Raum Ägypten — schrittweise 1922 und 1936 — und Saudi-Arabien (1932) die Unabhängigkeit. Ebenfalls an Großbritannien und Frankreich kamen als B-Mandate die früheren tropischen Afrikabesitzungen des Deutschen Reiches. Auf der niedrigsten Stufe stand Südwestafrika. Es fiel als C-Mandat, das »nach den Gesetzen des Mandatars und als integrierender Bestandteil seines Gebiets« verwaltet wurde, an die Südafrikanische Union. Die ebenfalls als C-Mandate ausgewiesenen Pazifikinseln, die zum deutschen Kolonialbesitz gehört hatten, teilten sich Australien, Neuseeland und Japan.Prof. Dr. Gottfried NiedhartWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Kolonialismus: Die großen KolonialreicheGrundlegende Informationen finden Sie unter:Imperialismus: Kulturelle Mission oder Platz an der SonneAlbertini, Rudolf von: Europäische Kolonialherrschaft. 1880-1940. Stuttgart 41997.Ansprenger, Franz: Auflösung der Kolonialreiche. München 41981.Hobsbawm, Eric J.: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Aus dem Englischen. Taschenbuchausgabe München 1998.Osterhammel, Jürgen: Kolonialismus. Geschichte - Formen - Folgen. München 1995.Die Peripherie in der Weltwirtschaftskrise. Afrika, Asien und Lateinamerika 1929-1939, herausgegeben von Dietmar Rothermund. Paderborn 1983.Rothermund, Dietmar: Die Welt in der Wirtschaftskrise, 1929-1939. Münster u. a. 1993.
Universal-Lexikon. 2012.